Bin ich alt oder weshalb begeistern mich die großen Ideale nicht mehr so recht?

Bin ich alt oder weshalb begeistern mich die großen Ideale nicht mehr so recht?

Ich frage mich gerade, wieso begeistern mich die großen Ideale nicht mehr so recht? Werde ich alt oder einfach realistischer? Darf ich mich mit dem folgenden Spruch trösten: „Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.“ Ist es wirklich die Entscheidung zwischen Herz und Hirn?  Helmut Schmidt formulierte es einst noch ‚charmanter‘: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Man kann natürlich auch erwidern: wer keine hat, sollte einen Bestatter aufsuchen, denn es könnte ein Anzeichen dafür sein, dass er bereits tot ist.

Die Frage lautet wohl: wie viele Ideale verträgt die Realität, bzw. wovon lassen wir unser Handeln steuern: von Idealen und Visionen oder reagieren wir pragmatisch auf gegebene Umstände. Ich bin mir bewusst, dass Lebensumstände nicht einfach vom Himmel fallen, sondern selbst wieder ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren darstellen. Aber man kann diese Umstände ignorieren und etwas völlig anderes postulieren oder man kann bei den bestehenden Umständen ansetzen und diese belassen wie sie sind oder Stück für Stück verändern. Dazu wird man Kompromisse eingehen und Abstriche an den eigenen Vorstellungen machen müssen.

Natürlich gibt es in der Geschichte immer wieder auch Brüche, Zusammenbrüche und Aufbrüche, bei denen tatsächlich etwas völlig Neues entsteht. Doch meistens knüpfen wir an Vorausgegangenem an. Das Ergebnis dieser Kompromissarbeit, wenn man überhaupt von einem fertigen Ergebnis reden kann, ist in der Regel ein Flickwerk, an dem man immer weiter nachbessern muss. Hübsch ist es sicher nicht und es bleibt ein Prozess.

Ganz anders sieht es aus, wenn wir die großen Visionen oder Ideale von einer besseren, gerechteren und solidarischeren Welt ansehen, in der sich alle Menschen respektvoll und wertschätzend begegnen, in der Frieden herrscht, soziale Ungerechtigkeiten beseitigt sind und Menschen ihre eigenen Lebensvisionen verwirklichen können, weil sie nicht mehr ums nackte Überleben kämpfen müssen. Diese Visionen glänzen und sie sind erstrebenswert. Dummerweise erinnern sie mich immer etwas an die alttestamentliche Vision des Propheten Jesaja, wo es heißt: „Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind … Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen …“ Es klingt wunderbar, ist aber ziemlich unwahrscheinlich.

Vielleicht ist es dieser unbestimmte und illusorische Zug, der dafür gesorgt hat, dass mich viele Ideale, die ich an und für sich für gut erachte, nicht mehr berühren. Wieso hat mich das Wahlkampfversprechen der SPD oder der Linken für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, nicht angesprochen, obwohl ich die wachsende Schere in unserer Gesellschaft zwischen Habenden und Besitzlosen für ein wirklich ernstzunehmendes Problem erachte, das angegangen werden muss? Wieso nervt mich die Rede von der grenzenlosen Solidarität? Wieso klicke ich Petitionen, die von Politikern im Rundumsorglospaket den Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit, ein geeintes Europa, Klimaschutz etc. fordern, mittlerweile weg, statt sie zu unterschreiben? Und weshalb beschleicht mich das ungute Gefühl, dass wenn die Kämpfer für eine bessere Welt das Ruder in ihren Händen hielten, diese Welt nicht besser würde?

Vielleicht habe ich kein Herz mehr, sondern zu viel Hirn oder ich bin alt. Das mit dem zu viel Hirn würde ich natürlich nie bestreiten 😉, sondern nur die Sache mit dem zu wenig Herz. Tja und das mit dem Alter ist eine Sache des Betrachters. Vielleicht liegt es aber eher daran, dass ich diese Ideale und Begriffe eher als inhaltsleere Phrasen erlebe, denn als konkrete Ideen.

Ich denke, weltweit sind die Menschen, die lieber im Krieg leben als im Frieden, die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit vorziehen, die Unsolidarität toll finden, eine ziemliche Minderheit. Dennoch erleben wir Krieg, Gewalt etc. D.h. irgendwo zwischen dem abstrakten Ideal und seiner Umsetzung läuft etwas schief. Und das, was schief läuft, hat m.E. mit der conditio humana zu tun. Ich will damit nicht sagen, dass der Mensch biologisch auf Gewalt und Hass gepolt ist, sondern dass die Verwirklichung dieser Ideale deshalb nicht so reibungslos klappt, weil sich Menschen zum einen unter bestimmten Ideen unterschiedliche Dinge vorstellen und zum anderen divergierende Vorstellungen bezüglich deren Umsetzungen haben.

Man könnte es mit einem abgewandelten Jesusspruch ausdrücken: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, gibt es Streit. In diesem Fall, wo zwei oder drei für eine ideale Welt kämpfen, gibt es Zoff. Es mag sein, dass es mit der Verwirklichung der idealen Welt bei dieser Gruppengröße tatsächlich noch klappt, allerdings wächst diese ideale Welt dann selten über die Größe eines Biobauernhofs hinaus. Und wo die Zahl der Involvierten steigt, wird mit jeder Null hinter der Zahl der Streit wahrscheinlicher.

Wer also von Frieden spricht, sollte angeben, welchen Preis er dafür zu zahlen bereit ist, wenn die andere Seite ihn nicht möchte. Bedeutet der Einsatz für den Frieden im eigenen Land die Armee zu reduzieren oder Herrscher, die Gewalt anwenden, mittels Sanktionen zu belangen oder dort selbst militärisch zu intervenieren oder vielleicht eine Kombination aus allem oder etwas ganz anderes? Ebenso sollte, wer von mehr Gerechtigkeit spricht, sagen, was er darunter versteht. Heißt Gerechtigkeit dafür zu sorgen, dass alle eine Chance haben, indem man z.B. die Schwachen unterstützt (womit noch nicht geklärt wäre, wie diese Unterstützung auszusehen hat) oder indem man Quoten einführt? Oder dass alle das Gleiche haben? Und wenn alle das Gleiche haben sollen, wie soll das erreicht werden?

Und was darf ich mir unter grenzenloser Solidarität mit der gesamten Menschheit konkret vorstellen? Mich lässt ein Begriff wie grenzenlose Solidarität zusammenzucken und zwar aus genau dem gleichen Grund wie grenzenlose Liebe oder ähnlichen Grenzenlosigkeiten. Denn grenzenlos heißt allumfassend, unbeschränkt und unbedingt. Woher in einer Welt, deren grundsätzliches Strukturprinzip Relativität und Bedingtheit ist, etwas Allumfassendes und Unbedingtes herkommen soll, weiß ich nicht. Kurz, ich glaube nicht an Unbedingtes in der Welt des Bedingten. Und dort, wo danach gestrebt wird, habe ich ganz schnell das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.

Mich stört aber auch die Überzeugung, eine Sache sei nur dann erstrebenswert, wenn sie zu 100 Prozent umgesetzt, gelebt oder was auch immer wird. Wenn nur 30 Prozent möglich sind, dann kann man es dieser Überzeugung nach gleich sein lassen. Entweder wird die ganze Welt gerettet oder gar nichts. Ich finde 10 Prozent Verbesserung gegenüber einer schlechten Ausgangssituation schon einen ersten wichtigen Schritt. Deshalb sind mir in der Regel die Ansätze und ihrer Vertreter sympathischer, die in kleinen pragmatischen Schritten die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern versuchen und auf das Proklamieren großer Ideale ebenso verzichten, wie darauf, das Paradies auf Erden zu errichten. Aber vielleicht bin ich einfach nur alt geworden.