Ist die Entlohnung von Arbeit in Wirklichkeit Schmerzensgeld?

Eine Frage beschäftigt mich schon länger. Wieso erwarten viele Menschen, Institutionen und im weitesten Sinne auch die Gesellschaft, dass geistiges Wissen, geistiger Input, Reflexionen zur Lebensgestaltung etc. gratis sind oder sein sollen? Erwartet jemand, dass sein Elektriker eine kaputte Sicherung umsonst austauscht oder dass der Automechaniker das Auto gratis durchcheckt? Wohl kaum. Was verbirgt sich hinter der Haltung von Medienanstalten, sich Experten ins Studio einzuladen, mit deren Kompetenz und Wissen ihre Sendungen zu bestücken, ohne dafür eine Vergütung zu gewähren? Wieso glauben Zeitschriften, die über gute Werbeeinnahmen verfügen, dass es völlig legitim ist, kein Honorar für einen Artikel zu bezahlen? Weil es eine Ehre darstellt, im jeweiligen Blatt zu veröffentlichen? Ich stelle mir gerade die Reaktion von Millionen Beschäftigen vor, denen am Monatsersten ihr Chef oder ihre Chefin erklärt, in Zukunft werden sie kein Gehalt erhalten, da die Ehre für das Unternehme XY zu arbeiten, als Entlohnung völlig ausreiche.
Wieso kommen Endverbraucher auf die Idee, dass es in Ordnung ist, sich gratis Musik oder Filme irgendwo herunterzuladen, die das Resultat der Arbeit anderer Menschen sind? Glauben die gleichen Leute auch, dass es ok ist, in ein Geschäft zu gehen, sich ein Handy oder einen Laptop aus der Vitrine zu nehmen und ohne zu bezahlen mit dem Gerät nach Hause zu gehen? Ich vermute, eher nicht. Die, die es tun, wissen zumindest, dass sie einen Diebstahl begehen. Wie sie ihn bewerten, ist eine andere Frage.
Aber auch dort, wo im kulturkreativen und geistigen Bereich Leistungen bezahlt werden, kann man selten von einer wirklichen Entlohnung oder Bezahlung sprechen. Was verbirgt sich hinter der Überzeugung, dass ein Abendvortrag, für den der Referent, die Referentin, wenn es gut geht 1-2 Wochen Vorbereitung steckt und manchmal auch 3-4 Wochen, maximal 6-7 Euro für den Konsumenten kosten darf? Ein Preis, für den man nicht einmal ein Kinoticket bekommt. Wieso bekommen ausgebildete Musiker, die Jahre studiert haben und Profis sind, für ihre Gigs so wenig, dass ihr Abendengagement mehr oder weniger als Benefizveranstaltung durchgeht. Ich rede hier nicht von den paar Großen der Branche, für die es anders läuft, sondern über diejenigen, die in ihrem Bereich genauso gut wie jeder andere Berufstätige mit abgeschlossener Berufsausbildung qualifiziert sind und dennoch nicht von ihrer Arbeit leben können. Die Liste ließe sich noch beliebig erweitern.
Mir scheint fast, dass hinter dieser Haltung die Überzeugung steht, dass die nicht-kreative, sondern konventionelle Arbeit einfach nur ein schmerzhaftes Übel ist, für das man deshalb Schmerzensgeld zu erhalten habe. Wenn man viele Arbeitsprozesse, aber auch Berufsfelder anschaut, dann trifft diese Bewertung fast schon zu, denn das Grundparadigma unseres Wirtschaftssystems lautet: Effizienzsteigerung, höher, schneller, weiter. Dies verlangt von jedem im Produktionsprozess stehenden Menschen, dass er sich diesen Gegebenheiten anpasst und bereit ist, an seine Schmerzgrenzen zu gehen. Entlohnung wird somit zum Schmerzensgeld für Entfremdung, Kreativitätsabtötung, Langeweile, Sinnentfremdung, geraubte Lebenszeit. Ein Schmerzensgeld, das zugegebenermaßen oft nicht den realen, durch Arbeit verursachten Schmerz widerspiegelt, was wir im Niedriglohnsektor erkennen können. Diese oftmals körperlich belastende Arbeit wird nämlich nur minimal entlohnt.
Wenn man die Entlohnung von Arbeit als Schmerzensgeld betrachtet, dann ist es natürlich nur stringent, den Menschen, die in ihrer Arbeit Kreativität, Sinn, gestalterische Spielräume, Freiheit erleben und auch selbst gestalten, kein Schmerzensgeld zu bezahlen. Sie leiden ja nicht unter dem, was sie tun. Folglich glaubt man, dass sie keine Entlohnung und damit kein Geld benötigen, denn sie gehören ja zu den Privilegierten, denen ihre Arbeit Spaß macht. Könnte man mit Lebensfreude als Währung seine Miete, Krankenkasse, Rentenversicherung etc. bezahlen, würde ich mich mit diesem Entlohnungssystem einverstanden erklären. Aber leider sind Lebensfreude und Kreativität weder in Deutschland noch in der EU oder sonst wo auf der Welt eine anerkannte und akzeptierte Währung.
Wer nun argumentiert, dass Arbeit eben einen Nutzen haben, verwertbar sein und der Wertschöpfung dienen müsse, sonst könne man sie eben nicht entlohnen, den kann ich jetzt nur rütteln und hoffen, er möge bald aus seinem Traum erwachen. Wäre es der Fall, dass Arbeit primär mit Wertschöpfung zu tun hätte, dann ist es kaum erklärbar, dass der Staat Abermilliarden ausgibt, um ganze Branchen und Arbeitsplätze mit Subventionen zu unterstützen. So hat der Staat in Deutschland Jahrzehnte lang Arbeitsplätze im Kohlebergbau mit irrsinnigen Summen subventioniert, obwohl schon lange klar ist, dass fossile Brennstoffe am CO2 Ausstoß einen großen Anteil haben. Man darf dann auch die berechtigte Frage stellen, welchen Nutzen z.B. Billig-Geschenkartikel haben, die zwar meist im Ausland produziert werden, deren ökologische Folgekosten global deshalb nicht weniger zu Buche schlagen und deren durchschnittliche Lebensdauer drei Monate beträgt, bevor sie im Müll entsorgt werden. Man produziert Dinge, um sie wegzuwerfen! Die Produktion ist letztlich nur eine riesige Ressourcenverschwendung. Über den Sinn und die Wertschöpfung von sogenannten Finanztransaktionen, die heute den globalen Finanzhandel prägen, möchte ich mich hier nicht auslassen.
Wer nun einwendet, dass die Entlohnung wesentlich mit Leistung zu tun habe, nämlich mit der Leistung, die jemand erbringt, sowie dem Aufwand, den jemand betrieben hat, um eine bestimmte Qualifikation zu erreichen, auch den kann ich nur bitten, aus seinem Traum zu erwachen. Dahinter verbirgt sich weit mehr ein Wunschdenken, denn die Beschreibung eines Sollenszustands. Das beweist nicht nur die Verweigerung einer adäquaten Entlohnung von Menschen im kreativ-kulturellen und sozialen Bereich, die alle eine Leistung erbringen und meistens eine sehr lange und gute Ausbildung hinter sich haben, sondern auch die Tatsache, dass die Gehälter von angestellten(!) Managern in einem Zeitraum von 20 Jahren um das sechzigfache im Verhältnis zu dem Gehalt eines Angestellten gestiegen sind. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass ein guter Chef oder eine gute Chefin die Leistung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen maßgeblich beeinflusst und damit für das Gesamt einen größeren Einfluss auf ein Unternehmen hat als eine einzelne Funktion, die leichter ersetzbar ist, ist seine Arbeit nicht Millionen von Euros im Jahr Wert. Wir können hier eher von Selbstermächtigung sprechen. Wer die Macht hat, kann seine Entlohnung auch nach oben nahezu unbegrenzt ausdehnen, indem er seine Arbeit für wesentlich erklärt und die der anderen für unbedeutend.
Einkommen haben also in den seltensten Fällen nur mit Wertschöpfung und Nutzen zu tun, sondern sie entsprechen einer gesellschaftlichen Konvention, genau wie das dahinterliegende Wirtschaftsmodell. Um es noch einmal klar zu sagen: diese Verteilungsmechanismen sind, wie das dazugehörende Wirtschaftssystem selbst, kein Naturgesetz, sondern eine Konvention. Und Konventionen lassen sich im Gegensatz zu Naturgesetzen verändern. Wenn wir eine lebenswerte Gesellschaft möchten, dann sollten wir diese auch verändern. Aus Studien mit Sterbenden wissen wir, dass Menschen am Lebensende nicht über nichterworbene Vermögenswerte trauern, sondern u.a. darüber, dass sie ihre Potentiale, Visionen und Ideen vom guten Leben nicht verwirklicht haben.
Zu einer Gesellschaft, die ein gutes Leben für ihre Mitglieder möchte, gehören eben auch kulturkreative und soziale Tätigkeiten. Eine Gesellschaft ohne Ärztinnen, Pfleger, Erzieherinnen, Betreuer würde ziemlich schnell kollabieren. Aber auch eine Gesellschaft ohne Künstler, Geisteswissenschaftler, Kulturkreative, die sich die Zeit nehmen über das Leben, die Gesellschaft nachzudenken und diese aktiv mitzugestalten, lässt wichtige Felder des menschlichen Lebens brachliegen. Von daher sollte es selbstverständlich sein, dass eine Gesellschaft diese Tätigkeiten so entlohnt, dass ihre Schöpfer davon leben können.