Europa und der Krieg in der Ukraine
Es gibt Ereignisse, von denen wünscht man, sie wären nie eingetreten, auch wenn sie perfekt zur Veranschaulichung einer Theorie passen. So ergeht es mir gerade mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der deshalb stattfindet, weil Putin diesen Krieg führen kann. Putins Verhalten ist fast wie aus dem Lehrbuch, das zeigt, was mit Menschen passiert, die Macht haben und deren Macht nicht mehr kontrolliert wird. Ihre Empathiefähigkeit ist mehr oder weniger deaktiviert (ob sie bei Putin je ausgeprägt war, ist eine andere Frage), denn Macht reduziert die Notwendigkeit, andere „lesen“ zu müssen. Es zeigen sich Hybris, autokratische Verhaltensweisen und Realitätsverlust, weil man kein kritisches Feedback mehr annehmen kann und muss.
Doch nicht nur Putin scheint von einem Realitätsverlust befallen zu sein, auch viele unserer Politiker scheinen bestimmte Aspekte der Realität nicht wahrgenommen zu haben, ansonsten wären sie von der Entwicklung und der Eskalation des Konflikts nicht so überrascht gewesen. Die Gruppe derer, die am 23. Februar immer noch überzeugt war, Putin werde die Ukraine nicht angreifen, obwohl dieser seit Wochen an der Grenze zur Ukraine massive Truppenverbände konzentriert hatte, war nicht gerade klein und dabei handelte es sich nicht nur um die notorischen „Putinversteher“ der extremen Linken und Rechten. Deutschlands Sorge um Russlands Befindlichkeiten ist historisch begründet.
Die Verklärung Russlands bzw. Putins in den beiden extremen politischen Lagern hat weitere Gründe. Teile des linken politischen Spektrums und nicht nur in der LINKEN sehen bis heute in Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion, einen antiimperialistischen Staat, der die Macht der Amerikaner einschränkt. Man lebt immer noch nach dem Motto: „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Der große Feind vieler Linker war und ist Amerika und der Imperialismus. Dabei hat man anscheinend übersehen, dass Putins Russland mit Antikapitalismus und Antiimperialismus nicht mehr das Geringste zu tun haben, sondern dass es sich um eine Oligarchie handelt, die sich aus dumpfen Machismo, Nationalismus, Konsumismus und antidemokratischen Elementen speist.
Genau diese Mischung ist der Grund, warum die extreme Rechte heute Putin liebt, der mit seinem antiwestlichen Kurs einen dezidiert antimodernen Kurs fährt, den die extreme Rechte ja ebenso vertritt. Für sie sind Individualismus, Gleichberechtigung, Minderheitenrechte und Demokratie nur Ausdruck von Verweichlichung und Schwäche, die durch den Rückgriff auf eine geschlossene nationale Identität und kollektive Werte therapiert werden sollen.
Dass man in Deutschland die russische Realität nicht sehen wollte oder konnte, gilt aber auch für die gemäßigten politischen Parteien. Die ehemalige Bundesregierung und ihre Kanzlerin Angela Merkel waren überzeugt, durch Handel und Gespräche Einigungen und Deeskalation erzielen zu können, selbst nachdem sich in den letzten Jahren Putins politische Präferenzen und seine Ablehnung der westlichen Demokratie immer offensichtlicher gezeigt haben. Hinter Merkels Regierung stand das Credo, dass diejenigen, die miteinander Handel treiben, und aufeinander angewiesen sind, sich nicht bekriegen werden.
Blind für offensichtliche Signale
Die vielen deutlichen Signale, die Russland und dann Putin in den letzten Jahren ausgesandt haben, hat man ignoriert oder hingenommen. Bereits 1991 unterstütze Moskau die Abspaltung Transnistriens von Moldau. 2008 kam es zum Krieg mit Georgien, da Putin Südossetien und Abchasien unterstützte und 2014 stand dann die Annexion der Krim sowie die militärische Infiltrierung der Ostukraine auf dem Programm. Spätestens mit seiner Rede zur Geschichte Russlands und der Ukraine von 2021 sollte jedem klar geworden sein, worum es Putin geht.
Putin träumt von Russland als Großreich und als geschlossener Gesellschaft. Demokratie, Pluralität und Freiheitsrechte bedrohen die autoritäre Herrschaftsform, mit der eine geschlossene Gesellschaft am besten zu regieren ist. Im Westen wollte man diese Ausrichtung nicht sehen, da sie nicht in die eigenen Narrative passten. Ich werde gleich auf diese Narrative zu sprechen kommen. Hanna Arendt nannte in ihrer Schrift „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ ihre wichtigste Methode zur Erforschung des Totalitarismus: das Ernstnehmen, dessen, was die Protagonisten des Totalitarismus sagten. Genau das hat die Politik in Bezug auf Putin nicht getan.
Das liegt natürlich nicht nur daran, dass man an die Ideen von wechselseitiger Verbundenheit, Vertragssicherheit, diplomatischer Konfliktlösung etc. glaubte, sondern das lag auch an einer etwas weniger idealistische Idee, die der lateinische Spruch „pecunia non olet“ (Geld stinkt nicht) am besten auf den Punkt bringt. Solange man gute Geschäfte machen kann, will man nicht alles sehen und wissen, was nicht zu den eigenen Werten passt. (Das betrifft in gleicher Weise unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit China.)
In einer globalisierten Welt ist es natürlich nicht möglich, ausschließlich mit halbwegs ethisch integren Staaten Handel zu treiben, aber man kann seine Abhängigkeiten von Staaten, die anders unterwegs sind, stärker reduzieren, um nicht erpressbar zu werden. Deutschland ist eher den umgekehrten Weg gegangen. Wir haben unsere Abhängigkeit von Russland kontinuierlich ausgebaut. Es war der Weg des geringsten Widerstandes einer rohstoffhungrigen Exportnation, um die nötigen Rohstoffe bereitzustellen. Das zeigt die Erweiterung von Nord Stream 1 auf Nord Stream 2 und das Festhalten an diesem Projekt als es bereits offensichtlich war, wohin die Reise in Russland geht. Deswegen zögerte die deutsche Regierung auch, die schärfste Waffen der Wirtschaftssanktionen zu unterstützen: die Abkoppelung Russlands von SWIFT, für die es ja immer noch Ausnahmen gibt, nämlich für die Banken, über die, die Geschäfte mit Öl und Gas laufen.
Werte ohne Sicherungsmöglichkeiten sind wertlos
Wer eine wertebasierte Außenpolitik führen möchte, was im 21. Jahrhundert ein vernünftiges Anliegen ist, muss aber für Rahmenbedingungen sorgen, damit diese gelingen kann. Ansonsten ist dieses Programm tatsächlich naiv. Diese Rahmenbedingungen sind nötig, weil Außenpolitik in der realen Welt stattfindet, in der sich eben nicht alle Staaten diesem Paradigma der modernen Werte verpflichtet haben und es anerkennen. Solange es Staaten gibt, die aufgrund ihrer militärischen Stärke oder ihrer wirtschaftlichen Potenz ihre Agenda auch gegen geltende Verträge und ein faires Miteinander durchsetzen können, benötigt man Mittel, um sich dagegen wehren zu können.
Diese Mittel lassen sich unter einem Begriff subsumieren: Macht. Man kann hundertmal die besseren Argumente haben, aber wenn man machtlos ist, kann man sie nicht verwirklichen. Im Bereich des Politischen gibt zwei wichtige Machtmittel: militärische und wirtschaftliche Stärke und, so man über eines von beiden oder beides nicht verfügt, die Fähigkeit, die richtigen Bündnisse zu schließen, die diese Stärke erzeugen. Die Idee der EU basiert ja auch auf dem Gedanken durch ihre Größe und wirtschaftliche Macht, eigene Interessen, Gesellschaftsmodelle und Demokratie schützen zu können.
Wirtschaftliche Stärke zeigt sich aber nicht nur im Bruttoinlandsprodukt, sondern in einer größtmöglichen Unabhängigkeit von Partnern, die diese Agenda nicht teilen. Beide Elemente sind in Deutschland jedoch nicht gegeben. Wir sind, was unsere Energieversorgung anbelangt, massiv abhängig von einem Staat, und wir sind militärisch alles andere als in einer guten Verfassung. Beide Entwicklungen sind meines Erachtens aber kein Zufall oder ein dummes Missgeschick, sondern sie gründen in bestimmten Überzeugungen.
Wertewandel und gesellschaftliche Modernisierung
Dass das Thema militärischer Stärke in Deutschland ein heikles Thema ist, hat zum einen mit der jüngeren Geschichte zu tun, aber auch mit einem generellen Wertewandel in den modernen westlichen Gesellschaften. Wir können seit den 60ern in vielen europäischen Staaten eine gesellschaftliche Neuorientierung erkennen. Der Schwerpunkt verlagerte sich hin zu mehr Selbstbestimmung, Individualismus, flachen Hierarchien und Gleichberechtigung. Werte wie Wertschätzung, Empathie, Verbundenheit, Kommunikation auf Augenhöhe, Verhandlungen als win-win-Situation etc. wurden wichtiger. Damit verbunden galten Werte, wie Hierarchie, Ordnung, Macht, Männlichkeit, Nationalismus als überholt. Institutionen wie Sicherheitsorgane oder Militär, die sich oftmals mit diesen Werten verbunden fühlten, galten nicht mehr als zeitgemäß, so dass man ihre Modernisierung bzw. ihren Einflussbereich zu reduzieren versuchte.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes passierte auf der internationalen Ebene etwas, das den modernen westlichen Demokratien, in denen die Zahl der Repräsentanten der neuen Werte wuchs und an Einfluss gewann, noch einmal Auftrieb gab. Ideen wie militärische Stärke, Abschreckung etc. waren aus der Zeit gefallen, da es keine echte Bedrohung mehr gab. Die Rede „vom Ende der Geschichte“, sprich dem unaufhaltsamen Siegeszug der westlichen Demokratien schien sich zu bestätigen.
Den ersten Dämpfer erhielt diese Überzeugung mit 9/11 und der Destabilisierung auch durch westliche Interventionen im Irak und Libyen und der Radikalisierung von Teilen der islamischen Welt. Al-Quaida und später der sogenannte Islamische Staat machten recht deutlich, dass sie von den Werten moderner Demokratien nichts hielten. Zu erklären, weshalb große Teile der Linken, die vor allem dieses neue Werteparadigma vertraten, angesichts dieser Angriffe auf ihre Werte erstaunlich passiv blieben, würde hier zu weit führen. Es war aber nicht nur der radikale Islam, der die Idee vom Ende der Geschichte ad absurdum führte, sondern eben auch Putins Russland und China. Selbst innerhalb der EU fanden und finden sich Anhänger des anti-modernen Werte-Paradigmas.
In Deutschland war aber nicht nur der Wertewandel für die Reduzierung von Militärausgaben und den Ansehensverlust des Militärs verantwortlich. Was das Militär anbelangte, verbanden sich postmoderne Werteüberzeugungen mit der neoliberalen Überzeugung vom schlanken Staat. So war es möglich, dass einschneidende Veränderungen bei der Bundeswehr von der CDU aus ökonomischen Gründen durchgesetzt wurden, obwohl die CDU traditionell ein eher positives Verhältnis zur Bundeswehr und zu Sicherheitsorganen hat. Seit den 90er Jahren dominierte der Neoliberalismus mit seiner Idee vom schlanken Staat und dem Glauben, Märkte würden alles regulieren, zunehmend das politische Handeln. Die Globalisierung mit ihren internationalen Vernetzungen und Abhängigkeiten wuchs. Was zu teuer zum Produzieren wurde, wurde in andere Weltregionen ausgelagert, Vorratshaltung wurde reduziert. Durch die daraus resultierenden Verflechtungen dachte man, wäre die Gefahr von kriegerischen Auseinandersetzungen unterbunden. Dies hat sich jedoch als Illusion erwiesen.
Was es braucht
Welche Konsequenzen ergeben sich nun für uns? Braucht es ein Erwachen aus Bullerbü wie es nun seit einigen Tagen zu hören ist, also die Überwindung einer Politik, die versucht den postmodernen Werten Rechnung zu tragen? Wer vom angeblich dekadenten Westen spricht, weil dieser sich mit „Luxusproblemen“ wie Gender, Anti-Diskriminierung und Klimawandel beschäftigt, hat nicht verstanden, dass sich eine moderne Gesellschaft nicht allein durch mehr Konsum und mehr Möglichkeiten Vermögen zu erwirtschaften auszeichnet, sondern auch durch die Partizipation von Minderheiten und einer Verantwortung für die Umwelt. Die Rede von der westlichen Dekadenz und ihrer Verweichlichung offenbart letztlich die gleiche Realitätsverweigerung wie man sie den Verteidigern und Verteidigerinnen dieser Werte zu Recht vorwirft, wenn diese glauben, Gleichberechtigung, Wertschätzung, Verhandlungsbereitschaft etc. seien bereits unumstößlich gesichert, nur weil sie vertraglich abgesichert sind.
Was die Befürworter und Befürworterinnen postmoderner Werte verstehen müssen, ist, dass man über Machtmittel verfügen muss, um diese Werte auch im Falle einer Bedrohung verteidigen zu können. Verträge allein reichen nicht immer. So wie Gesetze erst mit Sanktionsmaßnahmen bei Nichtbeachtung ihre Wirksamkeit entfalten, so verhält es sich auch mit Werten, die vertraglich garantiert werden. Das Thema innere und äußere Sicherheit ist nicht schon deshalb überholt, nur weil bestimmte Werte, die traditionell damit verbunden waren, für überholt gelten.
Auf traditionelle Sicherungssysteme kann man erst dann verzichten, wenn global alle Staaten diese Ideen vertreten und fördern. In einer Welt, in der jedoch viele Staaten moderne Werte (noch) ablehnen, weil sie von Autokraten beherrscht werden, muss man selber einen starken Staat/Staatenverbund haben, der diese Ideale im Notfall entweder militärisch oder wirtschaftlich verteidigt.
Wer glaubt, die Willensäußerung „Nie wieder Krieg“ wäre identisch mit der Verwirklichung des Anliegens, unterliegt einem Trugschluss, der dann offensichtlich wird, wenn eine Seite eben Krieg möchte. In einer Welt, in der immer noch unterschiedliche Wertesysteme miteinander konkurrieren, etablieren sich nicht automatisch die Ideale, die mehr Menschen Partizipationsmöglichkeiten und Selbstbestimmung ermöglichen, sondern die, die massiver durchgesetzt werden. Um zu verhindern, dass Werte, die das Zusammenleben gedeihlicher gestalten, unter die Räder kommen, müssen wir sie verteidigen könne.