Die Grenzen der Toleranz

Bedeutet wahrhaft tolerant zu sein, alles zu tolerieren? Oder gibt es Grenzen des Tolerablen und wenn ja, wo liegen diese?  Meines Erachtens kommt keine offene Gesellschaft ohne diese Grenzen aus. Offene Gesellschaften sind demokratische Gesellschaften, die keine für alle verbindlichen Ideologien vertreten und somit jede Form des Totalitarismus verwerfen. Sie bieten unterschiedlichsten Lebensvollzügen Raum zur Entfaltung. Und damit sind wir auch schon bei der notwendigen Grenze der Toleranz. Die Toleranz kann keine Lebensvollzüge tolerieren, die gegen die Grundlagen der offenen Gesellschaft gerichtet sind, wenn diese Lebensvollzüge im öffentlichen Raum nach Geltung und Anerkennung streben und die Pluralität abschaffen möchten.

Ein Mensch kann im Privaten durchaus nach Werten leben, die nicht denen einer offenen Gesellschaft entsprechen. Wer z.B. privat ein Modell der Geschlechtertrennung praktiziert, kann dies tun. Er kann aber nicht erwarten, dass dieses Modell im öffentlichen Raum, der dem Wert der Gleichberechtigung verpflichtet ist, als alternatives Lebensmodell Anerkennung findet und toleriert wird. So kann ein Mann keinen Anspruch erheben, in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht neben einer Frau sitzen zu müssen oder fordern, eine Frau müsse sich umsetzten, weil seiner Ansicht nach die Lebensbereiche von Männern und Frauen getrennt sein müssen. Die Grenze der Toleranz ist dort erreicht, wo ein geschütztes Rechtsgut verletzt wird. Zu den geschützten Rechtsgütern zählen u.a. das Leben, der Körper, die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum.

Diese Grenze der Toleranz gilt für alle Freiheitsrechte. Weder Meinungsfreiheit noch Religionsfreiheit sind Freifahrtscheine andere Menschen zu beleidigen oder zu diffamieren oder ihre durch das Grundgesetz geschützten Individualrechte einzuschränken. Das viel gehörte „man wird ja noch sagen dürfen“ erfährt genau dort seine Grenze, wo es andere Menschen diffamiert und beleidigt. Meinungsfreiheit impliziert eben nicht das Recht auf ungehindertes Pöbeln. Sie ist zudem kein Garant dafür, dass eine Meinung das Recht beanspruchen könne, unwidersprochen im Raum stehen zu bleiben. Genauso wenig die Religionsfreiheit losgelöst von anderen Freiheitsrechten steht oder diese gar übertrumpft. Religionsfreiheit schützt das Recht des Einzelnen seine religiöse Überzeugung zu leben, solange diese Überzeugung nicht mit anderen geschützten Rechtsgütern kollidiert oder die Lebensgestaltung anderer Menschen beeinträchtigt.

Denn nicht nur rechtsextreme und fundamentalistische Bewegungen attackieren die Grundlagen der offenen Gesellschaft. Auch Bewegungen, die für den Schutz von marginalisierten Gruppierungen kämpfen, verstärken z.T. mit ihren Konzepten und Theorien, die ursprünglich im Kampf gegen die Intoleranz entwickelt wurden, intolerante Denkweisen. Indem sie z.B. Kritik an intolerantem Verhalten, so es von Mitgliedern einer marginalisierten Gruppierung gezeigt wird, als Ausdruck von Intoleranz bezeichnen. Wer zu einer von der Mehrheitsgesellschaft marginalisierten Gruppe zählt, ist diesem Denken nach prinzipiell Opfer, weil er Teil einer Gruppe ist, die Diskriminierung erfährt. Man bedenkt dabei nicht, dass Menschen nicht nur Opfer von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe sein können, sondern dass sie gleichzeitig auch Täter gegenüber Menschen sein können, die einer anderen Gruppe angehören. Jemand kann aufgrund seiner Homosexualität Diskriminierung erfahren und dennoch rassistisch sein oder jemand kann aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft Diskriminierung erfahren und gleichzeitig andere Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Religionszugehörigkeit diskriminieren.

Wer ein solches intolerantes Fehlverhalten kritisiert und selbst für die Werte einer offenen Gesellschaft eintritt, ist eben nicht intolerant, sondern versucht diese Gesellschaft zu verteidigen. Wenn wir das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen und Überzeugungen in einer pluralen Gesellschaft sichern wollen, dürfen wir die Intoleranz nicht dulden, egal woher sie kommt.