Was wir gerade global politisch erleben, ist nicht nur ein Krieg in Europa, sondern das Ende eines Glaubens, der überzeugt war, dass es zum westlichen Modell mit Demokratie und offener Gesellschaft keine Alternative geben könne. Dessen Gegenmodell, der Illiberalismus erfreut sich nämlich wachsender Popularität. Putin mag aktuell der aggressivste Vertreter der illiberalen Gesellschaftsordnung sein, aber er ist bei weitem nicht der einzige. Mit China ist eine neue Weltmacht politisch aktiv, die die offene Gesellschaft ebenfalls massiv bekämpft. Aber auch die größte Demokratie der Welt, Indien, fährt unter der aktuellen BJP Regierung mit ihrem Präsidenten Modi einen stramm antiliberalen Kurs, dem der Iran sowie viele islamisch geprägte Staaten folgen. Und mit Donald Trump und den Republikanern hat sich im Kernland des Liberalismus der Antiliberalismus etabliert. Die Liste von Staaten, die im Antiliberalismus ihr Heil erblicken, ließe sich noch um viele Namen erweitern.
Selbst innerhalb der europäischen Union, deren Prämissen sich an der offenen Gesellschaft orientieren, finden sich Staaten oder Bewegungen, die das illiberale Modell präferieren. Ob die FPÖ in Österreich, die AfD in Deutschland, die Lega in Italien, Rassemblement National in Frankreich, Vox in Spanien, die PIS in Polen, Fidez in Ungarn, die Schwedendemokraten in Schweden, die PVV in Holland, um nur einige zu nennen, alle eint die Ablehnung der offenen Gesellschaft und ihrer Werte.
Gleichberechtigung und Minderheitenrechte, so wie die damit verbundene gesellschaftliche Toleranz werden bekämpft. Stattdessen wird von der ethnischen Volksgemeinschaft gesprochen und traditionelle Werte werden hochgehalten. Dabei sticht die Betonung der traditionellen Familie und die damit verbundene Ablehnung von Homosexualität heraus. Allerdings werden die propagierten traditionellen Werte zumindest von den politischen Protagonisten des Illiberalismus selten selbst gelebt.
Egoismus, Materialismus, die Bereitschaft zur Vetternwirtschaft, Vorteilsname, Manipulation und ein Privatleben, in dem die monogame Ehe kaum eine Rolle spielt, prägen die Viten vieler politischer Akteure. Man könnte sagen, die Abwesenheit von Werten, die sich nicht selten in einem zynischen Nihilismus manifestiert, kennzeichnet diese Bewegungen. Damit unterscheiden sie sich von echten konservativen politischen Strömungen. Ökonomisch wird oftmals dem Neoliberalismus gehuldigt, auch wenn die damit verbundene Globalisierung abgelehnt wird.
Warum fasziniert der Illiberalismus Menschen in offenen Gesellschaften?
Ich denke, wir müssen zwei Dimensionen unterscheiden, die der politischen Akteure und die der Gesellschaften, in denen sie wirken. Was die politischen Akteure anbelangt, liegt der Vorteil dieses illiberalen Systems klar auf der Hand: es bietet dem eigenen egozentrisch-materialistischen Machtstreben mehr oder weniger ein perfektes Verwirklichungsfeld, da die Macht nicht mehr kontrolliert wird, denn die Gewaltenteilung ist in illiberalen Staaten aufgehoben. In Gesellschaften, in denen diese funktioniert, agieren illiberale Bewegungen, indem sie sich als Stimme des Volkes inszenieren, gegen diese Institutionen, da diese angeblich den Willen des Volkes ignorieren würden.
Doch die politischen Akteure setzen den Illiberalismus selten gewaltsam gegen das Volk durch. In der Regel werden ihre Vertreter gewählt. Welchen Nutzen erhoffen sich die Wähler und Wählerinnen davon? Gesellschaftlich vollzog sich in vielen westlichen Ländern seit dem 2. Weltkrieg ein enormer Wertewandel und bedingt durch die Globalisierung eine erhebliche soziale und ökonomische Veränderung. Während die ökonomischen Veränderungen vor allem die unteren sozialen Schichten negativ betrafen und betreffen, berührt der gesellschaftliche Wertewandel auch ökonomisch gut situierte Kreise, die mit den Veränderungen hin zu mehr Diversität und der immer stärkeren Beachtung von Minderheiteninteressen nicht immer einverstanden sind. Spätestens nach der großen Migrationsbewegung 2015 kanalisierte sich diese Unzufriedenheit in Deutschland in der AfD. Innerhalb Europas ist das Migrationsthema sicherlich eines der Themen, das den rechtspopulistischen Parteien Auftrieb gegeben hat. Da sich die einstig konservativen Parteien wertemäßig eher den Paradigmen der offenen Gesellschaft und vor allem denen der globalisierten Welt angepasst haben, hat sich die Unzufriedenheit rechts der konservativen Parteien eine neue Heimat gesucht.
Mit der Radikalisierung des rechten Randes vollzog sich jedoch auch eine teilweise Radikalisierung des Lagers, das sich für Minderheitenrechte einsetzt und zwar dahingehend, dass die Grenzen dessen, was als Diskriminierung verstanden wird, immer enger gezogen werden. Theorien, die begründen, weshalb etwas diskriminierend ist, stammen aus dem universitären Diskurs verschiedenster gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen. Da diese Theorien jedoch anders als es ihre Befürworter und Befürworterinnen sehen, keine unfehlbare Wirklichkeitsbeschreibung sind, sondern in Diskursen verwurzelte Überzeugungen sind, müsste darüber diskutiert und gestritten werden. Wo dieser offene Diskurs verweigert und mit Dogmatismus und Rechthaberei gearbeitet wird, werden ebenfalls Grundwerte der offenen Gesellschaft infrage gestellt und leider auch den illiberalen Bewegungen in die Hände gespielt. Denn etliche Forderungen und Überzeugungen, die für die Anhänger und Anhängerinnen der identitätspolitischen Strömung unhinterfragbare Gewissheiten sind, sind es für andere Menschen nicht.
Für Europa kann man sagen, dass illiberale Ideen von Menschen mitgetragen werden, die z.T. ökonomisch abgehängt sind und auf dem immer härter umkämpften Markt von Arbeit und Wohnen mit vielen Migranten und Migrantinnen konkurrieren, aber auch von Menschen, die mit den Partizipationsforderungen verschiedener Minderheiten nichts anfangen können. Geteilte Rechte führen zwar nicht dazu, dass demjenigen, der über bestimmte Rechte als erster verfügte, etwas weggenommen wird. (Mit der Einführung der Ehe für alle wurde ja keine Ehequote für heterosexuelle Paare festgelegt, sondern homosexuelle Menschen erhielten einfach dieselben Rechte wie die Mehrheit der Gesellschaft.) Dennoch kann sich die Erweiterung des Kreises von Rechteempfängern wie ein Verlust eines Privilegs anfühlen. Der Illiberalismus verspricht die Wiederherstellung dieser verlorenen Sicherheiten und Privilegien, seien sie ökonomischer oder sozialer Natur.
Warum fasziniert der Illiberalismus Menschen in Gesellschaften, in denen vormoderne Werte dominieren?
Dass der Illiberalismus aber auch jenseits der offenen Gesellschaft so stark wurde, hat andere Gründe. In Gesellschaften, die teilweise noch von vormodernen Werten und Strukturen geprägt sind, wie z.B. in Indien, hat sich bislang oft kein funktionierendes staatliches Sicherungssystem entwickelt, das den Einzelnen in existenziellen Lebenssituationen schützt. Es gibt keine Absicherung für das Alter, bei Krankheit, Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit, bzw. diese Absicherung existiert nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung. Wo es keine staatlichen Sicherungsfunktionen gibt, muss die Großfamilie diese übernehmen.
Für die Modernisierung von Gesellschaften, wie wir sie im Westen erlebten, spielten die Industrialisierung und die Etablierung staatlicher Sicherungssysteme jedoch eine wichtige Rolle. Sie erst ermöglichten es dem Individuum eigene Interessen und Präferenzen zu entwickeln und zu verwirklichen, was wiederum zu einer Weiterentwicklung von Werten führte. Freiheitsrechte, die allen Menschen gleichermaßen zustehen, entspringen der Idee der Gleichwertigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft, die als eigenständige Individuuen gesehen werden.
Das Wertesystem von vormodernen Gesellschaften ist in der Regel jedoch noch stärker kollektivistisch, hierarchisch und patriarchal geprägt. Gleichheit und Gleichberechtigung spielen keine entscheidende Rolle. Da sowohl mit der Idee der Gleichheit wie mit der Gleichberechtigung der Verlust von Privilegien der je herrschenden Gruppierung einhergeht, wird diese in der Regel alles tun, um diesen Prestigeverlust zu verhindern. Das Modell des Illiberalismus hilft dabei: gesellschaftliche oder religiöse Minderheiten bekommen im gesellschaftlichen Gefüge einen untergeordneten Rang zu gewiesen, selbst wenn sie, wie in Indien, aufgrund der demokratischen Verfassung des Staates als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen gesehen werden. Die Bestrebungen der BJP zielen klar darauf, die religiösen Minderheiten zu Bürgern zweiter Klasse zu machen. Der Illiberalismus verhilft darüber hinaus Männern ihre im traditionellen Familienmodell privilegierte Position gegenüber Frauen beizubehalten, die in der Hierarchie auch weiterhin unten stehen.
Gerade für Männer bräuchte es daher neue Betätigungsfelder, in denen Rang und Ansehen erworben werden können, um den Bedeutungsverlust zu kompensieren, der durch die Ablösung des patriarchalen Familiensystem hin zu einem egalitären, entsteht. Inwieweit diese Prozesse unter den momentan herrschenden globalisierten Wirtschaftsbedingungen des Neoliberalismus allerdings realistisch sind, wird die Zukunft zeigen.
Warum fasziniert der Illiberalismus Menschen in postkommunistischen Gesellschaften?
Daneben haben wir Gesellschaften, wie in der ehemaligen Sowjetunion und in vielen ehemaligen Ostblockstaaten, in denen bereits vorhandene Sicherungssysteme durch einen ökonomischen und politischen Systemwechsel mehr oder weniger kollabiert sind oder ihre Funktion nicht mehr richtig erfüllen konnten. Diese Gesellschaften hatten zwar einen hohen Industrialisierungsgrad erreicht und ihr Werteparadigma war ein modernes, aber die massiven ökonomischen und politischen Veränderungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die für viele Menschen mit konkreten Verlusterfahrungen verbunden waren, führten zu einem Rückgriff auf Altes und Vertrautes. Traditionelle Rollenmuster spielten wieder eine deutlich größere Rolle. Dies hing auch damit zusammen, dass in dem entstandenen Machtvakuum Gruppierungen im öffentlichen Raum dominierten, die sich mit Gewalt und ökonomischer Überlegenheit positionierten und längerfristig die Politik zu prägen begannen.
Der neue Politikertypus, der in den neunziger Jahren z.T. in den ehemaligen Ostblockstaaten auftauchte, hatte oft gute Kontakte zum Militär, Geheimdienst und/oder zur organisierten Kriminalität. Es zählte oftmals das Recht des physisch oder ökonomisch Stärkeren. Gesellschaftlich bedeutete dies: Männer hatten hart und männlich zu sein und Frauen zogen sich aufgrund fehlender Sicherheiten aus dem öffentlichen Raum eher zurück. Alte Rollenbilder verfestigten sich im Lauf der Jahre wieder.
Ökonomisch brachte der Systemwechsel einer kleinen Gruppe enormen Reichtum, während große Teile der Bevölkerung zunächst verarmten. Viele Wirtschaftsbereiche und Arbeitsplätze verschwanden. Die starke staatliche Absicherung schrumpfte auf ein minimales Niveau und die einst große gesellschaftliche Solidarität verschwand, da sich nun jeder um sein eigenes Fortkommen kümmern musste. Alte Gewissheiten und ideologische Überzeugungen wurden über Nacht bedeutungslos. All dies verhinderte das Entstehen einer gesunden und starken Zivilgesellschaft, die der Träger der offenen Gesellschaft ist. Der Illiberalismus verspricht hier Orientierung, Sicherheit und eine neue kollektive/ethnische Bedeutsamkeit. Das interessante ist, dass gerade die ökonomischen und politischen Eliten, die sich Teile des Staates bzw. der Wirtschaft unter den Nagel gerissen hatten und als Nutznießer eines ungezügelten neoliberalen Kapitalismus dadurch mit zur massiven Ungleichheit in der Gesellschaft beigetragen hatten, nun als Retter dieser Gesellschaften auftreten.
Was braucht es, damit sich Gesellschaften, in Richtung offener Gesellschaften entwickeln könnten?
Zum einen ist es hilfreich, wenn der Staat Sicherungsfunktionen, die traditionell die Familien übernommen hatten, übernehmen kann. Das ermöglicht auf längere Sicht arbeitsteilige Gesellschaften, die deutlich dynamischer und flexibler sind als traditionelle Gesellschaften. In solchen Gesellschaften können Freiheitsrechte entstehen, müssen es aber nicht, wie das Beispiel von China zeigt.
Dazu kommt, dass das Bruttosozialprodukt durch die Bürger und Bürgerinnen erwirtschaftet werden sollte und nicht aus Bodenschätzen, die eine kleine Gruppe als ihr Privateigentum betrachtet. Hier gilt das Motto: no taxation without participation. Allerdings ist dies auch kein Garant für die Entwicklung der offenen Gesellschaft.
Das wichtigste Element neben einem gesunden ökonomischen Fundament für Viele ist die Gewaltenteilung. Herrschaftsmacht muss kontrolliert werden können. Dies kann nur eine unabhängige Justiz und eine kritische Öffentlichkeit leisten, die Zugang zu unabhängigen Informationen bekommt. Dazu ist aber auch eine Öffentlichkeit notwendig, die über Bildung verfügt und die sich als Bürger und Bürgerinnen für ihren Staat verantwortlich fühlen.
Und hier sind wir an einem kritischen Punkt: illiberale Staatsmodelle tun alles, um eine Gewaltenteilung zu verhindern oder bestehende Systeme zu zerstören. Bildung ist eher Propaganda, denn aufgeklärte Bürger im klassischen Sinn sind im Illiberalismus nicht nur nicht erwünscht, sondern eine Gefahr. Leider gilt: Wo sich illiberale Strukturen bereits verfestigt haben, wird es für lange Zeit keine offene Gesellschaft mehr geben.
Aus diesem Grund ist es die wichtigste Aufgabe der offenen Gesellschaft, ihre Grundlagen zu sichern. Und dazu ist eine kritische Reflexion über die Verflechtung der neoliberalen Wirtschaftsordnung mit dem Wertesetting der offenen Gesellschaft unverzichtbar. Denn auch wenn der Neoliberalismus demokratische Institutionen nicht per se ablehnt, so hat er die Demokratie und damit auch die offene Gesellschaft geschwächt, indem er z.B. durch die Deregulierung der Finanzmärkte ein System geschaffen hat, das jenseits demokratischer Prozesse eigenen Regeln folgt und in die Politik souveräner Staaten eingreifen kann, wie die Finanzkrise Anfang der 2010er Jahre gezeigt hat. Da die neoliberale Wirtschaftsordnung mit ihren deregulierten Finanzmärkten global agiert, während Staaten aufgrund der immens unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Entwicklungen immer noch mehr oder weniger national agieren müssen, entsteht ein massives Ungleichgewicht. Dies führt dazu, dass Politiker oftmals kaum mehr Steuerungselemente zur Gestaltung der Politik in Händen halten. All diese Entwicklungen fördern auch die Sehnsucht nach einem starken Staat, in dem die Interessen der Bürger und Bürgerinnen wieder Berücksichtigung finden sollen. Und hier setzten die Protagonisten des Illiberalismus an, indem sie behaupten, sie könnten ihn wiederherstellen. Den Preis, den die Gesellschaft jedoch dafür bezahlen muss, kann man aktuell in etlichen Staaten beobachten.